Der Unvermeidliche

Im Jahr 1493, kurz nach der Ent­de­ckung Ame­ri­kas, ist der Kolum­bus zu einem Abend­essen beim spa­ni­schen Kar­di­nal Men­doza ein­ge­la­den. Die übri­gen Gäs­te ken­nen natür­lich nur ein Gesprächs­the­ma: die Ent­de­ckung der Neu­en Welt. Doch nicht alle sind beein­druckt; die Über­fahrt hät­te doch jeder voll­brin­gen kön­nen. Kolum­bus ver­langt dar­auf­hin von den Gäs­ten, sie soll­ten ver­su­chen, ein gekoch­tes Ei auf der Spit­ze zu balancieren.

Unwei­ger­lich kommt einem die­se Anek­do­te – die so wahr­schein­lich gar nicht statt­ge­fun­den hat – bei der Betrach­tung der israe­li­schen Innen­po­li­tik in den Sinn. Nicht, weil Minis­ter­prä­si­dent Ben­ja­min Net­an­ya­hu einen neu­en Kon­ti­nent ent­deckt hät­te. Viel­mehr des­halb, da das Wahl­er­geb­nis der vor einer Woche statt­ge­fun­de­nen Par­la­ments­wah­len die Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen ähn­lich kom­pli­ziert gestal­ten dürf­te, wie das sprich­wört­li­che Ei auf der Spit­ze zu balan­cie­ren. Zwar wur­de Net­an­ya­hus Likud-Block mit einer ver­gleichs­wei­se sat­ten Mehr­heit von 24,19 Pro­zent aus­ge­stat­tet und ist damit trotz Ver­lus­ten kla­rer Wahl­sie­ger. Von einer Mehr­heit in der Knes­set ist der Likud damit aller­dings noch weit ent­fernt. Mit mög­li­chen Koali­ti­ons­part­nern käme die Par­tei des amtie­ren­den Minis­ter­prä­si­den­ten auf ins­ge­samt 52 Man­da­te – für eine Mehr­heit in der 120 Sit­ze umfas­sen­den Knes­set sind jedoch 61 erforderlich.

Auf der ande­ren Sei­te hät­te die bunt zusam­men­ge­wür­fel­te Oppo­si­ti­on im Fal­le einer Koali­ti­ons­bil­dung ins­ge­samt ledig­lich 57 Man­da­te. Zwei „block­freie“ Par­tei­en sind damit aus­schlag­ge­bend: einer­seits die Isla­mis­ti­sche Par­tei Ra’am mit vier Man­da­ten und ande­rer­seits die rech­te Lis­te Yami­na mit sie­ben Manda­ten des ehe­ma­li­gen Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ters Naf­ta­li Bennett.

Auf der Suche nach der Koalition

Die Koali­ti­ons­ge­sprä­che mit die­sen bei­den Par­tei­en wer­den sich wahr­schein­lich als äußerst schwie­rig erwei­sen. Es ist nur schwer vor­stell­bar, dass die Ra’am, eine Isla­mis­ti­sche Par­tei, in eine Regie­rung mit der reli­giö­sen Rech­ten in Isra­el ein­tritt. Aber allei­ne mit den Stim­men der Sied­ler­par­tei Yami­na käme die Net­an­ya­hu-Koali­ti­on auf ledig­lich 59 Man­da­te. Das bedeu­tet ent­we­der eine Regie­rungs­be­tei­li­gung der Ra’am, oder Net­an­ya­hu muss zwei Abge­ord­ne­te der Oppo­si­ti­on über­zeu­gen, die Regie­rung zu unterstützen.

Wahr­schein­lich ist das nicht. Die Oppo­si­ti­on, ange­führt von der libe­ra­len Par­tei Yesh Atid unter dem ehe­ma­li­gen Jour­na­lis­ten Yair Lapid, hät­te es näm­lich fast leich­ter, eine Regie­rungs­mehr­heit zu bil­den. Mit der Unter­stüt­zung der Yami­na hät­te die Oppo­si­ti­on 64 Man­da­te und damit eine Regie­rungs­mehr­heit. Naf­ta­li Ben­nett hat es jedoch bereits abge­lehnt, unter einem Minis­ter­prä­si­den­ten Lapid in eine Regie­rung ein­zu­tre­ten. Es wäre aller­dings denk­bar, dass sich Ben­nett und Lapid im Amt des Minis­ter­prä­si­den­ten abwech­seln, wie es bereits Net­an­ya­hu und Ben­ny Gantz hät­ten tun sol­len oder aber ein Sze­na­rio, in dem sie sich auf einen Kom­pro­miss­kan­di­da­ten einigen.

Instabilität

Das wäre im israe­li­schen poli­ti­schen Sys­tem nicht unüb­lich. Das liegt auch und ins­be­son­de­re am Wahl­recht zum israe­li­schen Par­la­ment. Die Ver­fas­sung sieht näm­lich eine recht nied­ri­ge Sperr­klau­sel von 3,25 Pro­zent für den Ein­zug in die Knes­set vor. Das hat zur Fol­ge, dass auch recht klei­ne Par­tei­en rela­tiv leicht den Ein­zug schaf­fen kön­nen. Jene, die es nicht schaf­fen wür­den, schlie­ßen sich zu Wahl­bünd­nis­sen zusam­men. Teil­weise bestehen der­ar­ti­ge Lis­ten aus drei oder mehr Par­tei­en, die sich nach der Wahl mit­un­ter wie­der auf­lö­sen und die errun­ge­nen Par­la­ments­sit­ze unter sich auf­tei­len. So sind in der aktu­el­len 24. Knes­set neun Wahl­bünd­nis­se und ins­ge­samt 13 Partei­en vertreten.

Das macht Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen nicht unbe­dingt ein­fa­cher. Die Wahl zur 24. Knes­set wird also mög­li­cher­wei­se lang­wie­ri­ge Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen nach sich zie­hen, die leicht schei­tern könn­ten. Das hät­te Neu­wah­len zur Fol­ge – die fünf­ten in nur zwei Jah­ren. Doch selbst bei erfolg­rei­chem Aus­gang der Ver­hand­lun­gen ist nicht gesagt, dass die Koali­ti­on auch eine gan­ze Legis­la­tur­pe­ri­ode hin­durch sta­bil bleibt. Das hat sich auch anhand der äußerst insta­bi­len Koali­ti­on zwi­schen Ben­ja­min Net­an­ya­hu und Ben­ny Gantz’ Wahl­bünd­nis Kachol Lavan (Blau-Weiß) gezeigt.

Winkelzüge

Nach­dem es weder Net­an­ya­hu noch Gantz im April und Sep­tem­ber 2019 gelun­gen war, eine Koali­ti­on zu bil­den, gelang­ten sie im April 2020 nach einem Monat der Ver­hand­lun­gen zu einer Arbeits­über­ein­kunft. Die bei­den wür­den zusam­men eine Koali­ti­on bil­den. Die Bedin­gung für die­se Zusam­men­ar­beit war ein Wech­sel an der Regie­rungs­spit­ze. Nach 18 Mona­ten soll­te Net­an­ya­hu das Amt des Regie­rungs­chefs Gantz über­ge­ben. Dazu kam es jedoch nie. Die­se Regie­rung war von Beginn an durch Miss­trau­en und Unei­nig­keit gekenn­zeich­net, vor allem in Haus­halts­fra­gen. Nach gera­de ein­mal neun Mona­ten schei­ter­ten die Regie­rungs­par­tei­en schluss­end­lich an der Verabschie­dung eines Haushalts.

Es folg­ten Neu­wah­len – und Net­an­ya­hu blieb Minis­ter­prä­si­dent. Wird kei­ne neue Koali­ti­on am Likud vor­bei geschaf­fen, wird er es wahr­schein­lich auch blei­ben. Damit ist der 71-Jäh­ri­ge seit zwölf Jah­ren unun­ter­bro­chen Minis­ter­prä­si­dent und der längstdie­nen­de Regie­rungs­chef, den Isra­el je hat­te. Die­ses Amt beklei­de­te Net­an­ya­hu bereits von 1996 bis 1999. Vor der Jahrtausend­wende muss­te er sich auf­grund von Kor­rup­ti­ons­vor­wür­fen aus der akti­ven Poli­tik zurück­zie­hen. Auch 2020 wur­de erneut ein Ver­fah­ren wegen Kor­rup­ti­on gegen ihn eingeleitet.

Der rechts­kon­ser­va­ti­ve Poli­ti­ker ist wegen Bestech­lich­keit, Betrug und Untreue ange­klagt. Ihm wird unter ande­rem zur Last gelegt, für poli­ti­sche Gefäl­lig­kei­ten von rei­chen Freun­den teu­re Geschen­ke wie Cham­pa­gner­kis­ten und Zigar­ren ange­nom­men zu haben. Im Gegen­zug für posi­ti­ve Bericht­erstat­tung über ihn und sei­ne Fami­lie soll er zudem Medi­en­mo­gu­le begüns­tigt haben.

Tages­schau

Net­an­ya­hus Kon­kur­rent Gantz wirft die­sem vor, dass er sich durch die Neu­wah­len der Kor­rup­ti­ons­an­kla­ge zu ent­zie­hen ver­sucht. Netanya­hu trei­be Isra­el in Neu­wah­len, „um nicht ins Ge­fäng­nis zu gehen“, so Gantz auf Twit­ter. In der Tat hat es Net­an­ya­hu durch geschick­te poli­ti­sche Manö­ver und sei­ne Wei­ge­rung, ange­sichts der neu­er­li­chen Kor­rup­ti­ons­vor­wür­fe zurück­zu­tre­ten, geschafft, Minister­präsident zu bleiben.

Der Unvermeidliche

Das wird sich wahr­schein­lich auch nicht ändern. Solan­ge kei­ne neue Regie­rung ange­lobt ist, wird Net­an­ya­hu Regie­rungs­chef blei­ben – also auch dann, wenn die Koalitionsver­handlungen schei­tern und erneut Par­la­ments­wah­len ange­setzt wer­den wür­den. Das liegt aller­dings nicht allei­ne an poli­ti­schen Win­kel­zü­gen, die Net­an­ya­hu per­fekt beherrscht.

Es ist auch die unbe­ding­te Unter­stüt­zung, die sei­ne Anhänger*innen ihm ent­ge­gen­brin­gen. Die Kor­rup­ti­ons­vor­wür­fe gegen ihn sei­en nur eine Ver­schwö­rung sei­ner poli­ti­schen Geg­ner, „Bibi“ sei der ein­zi­ge Poli­ti­ker mit Füh­rungs­qua­li­tä­ten, er habe sich per­sön­lich für die Covid-Impf­stoff­lie­fe­run­gen nach Isra­el ein­ge­setzt. In der Tat, „Bibi“ sei der Beschüt­zer des jüdi­schen Vol­kes, der größ­te Staats­mann der Welt. Sich der­art auf die Unter­stüt­zung sei­ner Anhänger*innen ver­las­sen zu kön­nen ist in einem frag­men­tier­ten poli­ti­schen Sys­tem wie dem Isra­els eini­ges Wert.

Es wür­de nicht über­ra­schen, wenn er es auch die­ses Mal schaf­fen wür­de, Minis­ter­prä­si­dent zu blei­ben. Zu geschickt ist er bei der Aus­nut­zung sei­ner Posi­ti­on, dabei, sich im Zen­trum der israe­li­schen Poli­tik zu hal­ten. Und soll­te der unwahr­schein­li­che Fall ein­tre­ten, dass er abge­wählt wird – eine Koali­ti­on, deren ein­zi­ges Ziel es ist, Net­an­ya­hu abzu­wäh­len, wird bald auf sehr prak­ti­sche Pro­ble­me und inhalt­li­che Dif­fe­ren­zen sto­ßen. Erneut kommt das Ei des Kolum­bus in den Sinn. Nach­dem alle ande­ren dar­an geschei­tert sind, das Ei auf der Spit­ze zu balan­cie­ren, nimmt es Kolum­bus und drückt es fest auf den Tisch. Die Scha­le gibt nach und das Ei bleibt ste­hen. Die Gäs­te wer­fen Kolum­bus vor, dass sie das auch gekonnt hät­ten. Der See­fah­rer ent­geg­net: „Das mag sein, doch nur ich habe es getan.“

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