Die Rückkehr zum Fortschritt

Zuerst hören sie Schreie. Glas­schei­ben zer­bers­ten. Schüs­se fal­len. Män­ner in dunk­len Anzü­gen brin­gen im Lauf­schritt den Vize­prä­si­den­ten Mike Pence in Sicher­heit. Die Türen des Sit­zungs­saals, in dem bei­de Kam­mern des Kon­gres­ses getagt hat­ten, wer­den ver­bar­ri­ka­diert. Trotz allem gelingt es dem Mob, den Saal zu stürmen.

Erst Stun­den spä­ter gelingt es den Poli­zei­kräf­ten der Capi­tol Poli­ce, das Kapi­tol­ge­bäu­de zu räu­men und einen Peri­me­ter zu errich­ten. Die Bilanz des Tages: fünf Tote, dar­un­ter ein Poli­zist. Unter dem Vor­sitz des Vize­prä­si­den­ten, gleich­zei­tig Senats­prä­si­dent, bestä­tig­te der Kon­gress schließ­lich die Ergeb­nis­se der Prä­si­dent­schafts­wahl vom 3. Novem­ber 2020. Ein Akt der eigent­lich eine rei­ne For­ma­lie hät­te sein sollen.

Baghdad und Potomac

Heu­te erin­nert ein schwer bewach­ter Bereich um das Kapi­tol an die­sen schwar­zen Tag der US-Demo­kra­tie, als ein amtie­ren­der Prä­si­dent eine gewalt­be­rei­te Men­schen­mas­se auf den Sitz der Legis­la­ti­ve hetz­te. Rund um das Kapi­tol ste­hen nun Maschen­draht­zäu­ne, bewacht von der Natio­nal­gar­de und dem Secret Ser­vice – die „Capi­tol Green Zone“. Dass damit Asso­zia­tio­nen mit der Green Zone in Bagh­dad geweckt wer­den, ent­behrt nicht einer gewis­sen Ironie.

Und den­noch: ist es nicht ein Zei­chen für die Sta­bi­li­tät der US-Demo­kra­tie, dass Joe Biden kom­men­den Mitt­woch ange­lobt wird? Dass der Sturm auf das Kapi­tol und Donald Trumps zuneh­mend ver­zwei­fel­te Ver­su­che, sei­nem Demo­kra­ti­schen Her­aus­for­de­rer den Wahl­sieg doch noch zu neh­men, letzt­lich geschei­tert sind? Letzt­lich hat sich die US-Ver­fas­sung als stär­ker erwie­sen als der (noch) amtie­ren­de Präsident.

Joe Bidens Ange­lo­bung als 46. Prä­si­dent der Ver­ei­nig­ten Staa­ten wird von die­sen Ereig­nis­sen über­schat­tet. Eben­so von den vier tur­bu­len­ten Jah­ren Donald Trumps im Wei­ßen Haus. Es gibt viel zu tun, viel zu repa­rie­ren für die Demo­kra­ten. Bidens Prä­si­dent­schaft ist ein drin­gend benö­tig­ter Neu­start für die US-Poli­tik. Sobald Oba­mas ehe­ma­li­ger Vize­prä­si­dent am 20. Jän­ner 2021 den Amts­eid ablegt, wird die wahr­schein­lich bizarrs­te Epi­so­de der US-Geschich­te ihr Ende gefun­den haben.

Ende der Beziehungspause

Außen­po­li­tisch wer­den die USA ihre inter­na­tio­na­len Part­ner­schaf­ten, ins­be­son­de­re mit Euro­pa, wie­der­be­le­ben müs­sen. Das inter­na­tio­na­le Enga­ge­ment der USA steht spä­tes­tens seit dem Rück­zug der US-Trup­pen aus Nord­sy­ri­en infra­ge; eben­so nähr­te Joe Bidens Amts­vor­gän­ger Zwei­fel an der Unter­stüt­zung der USA für NATO-Part­ner. Das hat zu einer Dis­kus­si­on dar­über geführt, ob die Trans­at­lan­ti­sche Mili­tär­al­li­anz über­haupt noch zeit­ge­mäß ist.

Unter Joe Biden, der Jahr­zehn­te an außen­po­li­ti­scher Erfah­rung in das Amt mit ein­bringt, ist mit einem Ende die­ser Bezie­hungs­pau­se und einem Wie­der­erstar­ken der Trans­at­lan­ti­schen Bezie­hun­gen zu rech­nen. Die tek­to­ni­schen Bruch­li­ni­en blei­ben aber bestehen. Der Han­del zwi­schen Euro­pa und Chi­na, die Debat­te über die stra­te­gi­sche Auto­no­mie der Uni­on und die Bezie­hun­gen der EU zu Russ­land sind poten­zi­el­le Pro­ble­me. Trump hat die­se offen und rüpel­haft ange­spro­chen. Biden wird sie anders the­ma­ti­sie­ren, aber the­ma­ti­sie­ren wird er sie.

Wei­te­re Fra­gen stel­len sich in Hin­blick auf den Han­dels­krieg mit Chi­na und die Posi­ti­on der USA zu Russ­land. Die USA haben sich aus dem Pari­ser Kli­ma­ab­kom­men zurück­ge­zo­gen, trotz der Jahr­hun­der­ther­aus­for­de­rung Kli­ma­wan­del. Eine wei­te­re Her­aus­for­de­rung ist die ira­ni­sche Uran­an­rei­che­rung. Hier stellt sich die Fra­ge, ob Joe Biden das Atom­ab­kom­men mit dem Iran (Joint Com­pre­hen­si­ve Plan of Action, JCPOA) wie­der in Kraft set­zen kann und wird. Die Ner­vo­si­tät der Golf­staa­ten in Hin­blick auf eine Ent­span­nung mit dem Iran ist vor­pro­gram­miert. Auch die Gesprä­che über eine nukle­ar­waf­fen­freie Korea­ni­sche Halb­in­sel gilt es, wei­ter­zu­füh­ren, wenn­gleich Kim Jong-un kei­nen ganz so freund­li­chen Gesprächs­part­ner im Wei­ßen Haus erwar­ten darf wie zuletzt.

Hin­zu kom­men ver­schie­dens­te innen- wie auch außen­po­li­ti­sche Her­aus­for­de­run­gen. Die obers­te Prio­ri­tät der neu­en Admi­nis­tra­ti­on wird der Kampf gegen die COVID-19-Pan­de­mie haben. Das beinhal­tet auch eine Form der Diplo­ma­tie, die man als “Impf-Diplo­ma­tie” bezeich­nen könn­te. Staa­ten, die kei­nen oder nur einen schlech­ten Zugang zu Vak­zi­nen haben oder sich die­sen nicht leis­ten kön­nen, wer­den zu einer außen­po­li­ti­schen Prio­ri­tät wer­den müssen.

Steter Tropfen

Den­noch: die struk­tu­rel­len Pro­ble­me der Ver­ei­nig­ten Staa­ten wer­den auch unter einem Prä­si­den­ten Biden aller Wahr­schein­lich­keit nach nicht gelöst wer­den. Nicht, weil er sie nicht lösen will, son­dern weil er sie nicht lösen wird kön­nen. Die wach­sen­de sozia­le Ungleich­heit in den USA und die zuneh­men­de Ent­frem­dung von schwar­zen und wei­ßen Bevöl­ke­rungs­schich­ten stel­len mit die größ­ten Her­aus­for­de­run­gen dar.

Zu viel soll­te man sich von Bidens Prä­si­dent­schaft also nicht erwar­ten, denn er steht vor Pro­ble­men, die wäh­rend einer Prä­si­dent­schaft, geschwei­ge denn in nur einer Amts­zeit, nicht gelöst wer­den kön­nen. Donald Trumps Ein­fluss wird zudem weit über das Ende sei­ner Amts­zeit hin­aus­rei­chen, vor allem in Anbe­tracht sei­ner Ernen­nun­gen von drei Rich­tern zum Supre­me Court. Er hat außer­dem eine gewalt­be­rei­te Anhän­ger­schaft hin­ter­las­sen – Aus­schrei­tun­gen oder gar Anschlä­ge sind nicht aus­zu­schlie­ßen. Biden wird daher ver­su­chen, eine mög­lichst brei­te Basis für sei­ne Geset­zes­vor­ha­ben zu fin­den, um kein Öl ins Feu­er zu gießen.

Das bedeu­tet, er ist auf die Repu­bli­ka­ner im Senat ange­wie­sen. Das umso mehr, da eine 50:50-Aufteilung im Senat und der „Tie-Break-Vote“ der künf­ti­gen Vize­prä­si­den­tin Kama­la Har­ris für wich­ti­ge Geset­zes­vor­ha­ben nicht rei­chen wird. Erst mit einer Mehr­heit von 60 Stim­men kann eine Debat­te im Senat geschlos­sen wer­den – bis dahin kön­nen die Repu­bli­ka­ner die Abstim­mung über ein Geset­zes­vor­ha­ben theo­re­tisch bis zum Ende der Legis­la­tur­pe­ri­ode hinauszögern.

Trotz allem lässt sich fest­stel­len: Joe Bidens nun begin­nen­de Prä­si­dent­schaft ist ein drin­gend benö­tig­tes Signal dafür, dass Logik und Ratio­na­li­tät in der Poli­tik noch ihren Platz haben; dass Anstand und Wür­de immer noch zäh­len. Und auch, wenn die Biden-Admi­nis­tra­ti­on nicht alle not­wen­di­gen Refor­men durch­brin­gen wird kön­nen, kann man erst­mals wie­der seit vier Jah­ren die Hoff­nung schöp­fen, dass die Zukunft eine bes­se­re sein kann.

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