Zwischen Hoffnung und Horror

Schüs­se. Trä­nen­gas. Kin­der, die ertrin­ken. Men­schen, die von der Küs­ten­wa­che mit Stö­cken geschla­gen wer­den. Die Leu­te schei­nen das Trä­nen­gas und die Warn­schüs­se kaum noch zu regis­trie­ren. Men­schen, auf die ein­ge­prü­gelt wird, von selbst­er­nann­ten „Patrio­ten“. Ein Flücht­lings­la­ger in Grie­chen­land, das in Flam­men steht. Unwei­ger­lich fragt man sich, was man für ein Mensch sein muss, um mit so viel Hass und Bru­ta­li­tät gegen Men­schen vor­zu­ge­hen, denen nichts mehr geblie­ben ist. Man fragt sich, was man­che Men­schen dazu bringt, auf die­se Leu­te schie­ßen zu wol­len. Wie viel Angst sie haben müs­sen, um von einer Inva­si­on zu sprechen.

Fünf Jah­re nach der Flücht­lings­kri­se sind wir erneut an dem Punkt, an dem wir uns über Migra­ti­on und Flucht unter­hal­ten müs­sen. Mit der Ent­schei­dung des tür­ki­schen Prä­si­den­ten Erdoğan, die Gren­ze nach Grie­chen­land für Flücht­lin­ge und Migran­ten zu öff­nen, flamm­te die Dis­kus­si­on um die euro­päi­sche Sicher­heit neu auf und die Flücht­lings­de­bat­te nahm wie­der an Inten­si­tät zu. Die­se Ent­schei­dung Erdoğans zeigt, wie leicht in Euro­pa mitt­ler­wei­le die Wogen hoch­ge­hen, wenn es um Flücht­lin­ge geht und wie ner­vös die Öffent­lich­keit ist. Am Höhe­punkt der Flücht­lings­kri­se im Okto­ber 2015 haben ins­ge­samt 222.800 Men­schen die Gren­zen über­quert, heu­te sind es 13.000. Außer­dem sit­zen die Flücht­lin­ge fest: zwi­schen Hoff­nung auf der einen und Hor­ror auf der ande­ren Seite.

Debatte seit 2015

Für Grie­chen­land und für Euro­pa stel­len die­se Men­schen eine gro­ße Her­aus­for­de­rung dar: poli­tisch, mensch­lich und logis­tisch. Asyl­su­chen­de müs­sen iden­ti­fi­ziert und regis­triert wer­den, Grenz­über­trit­te müs­sen auf geord­ne­te Art und Wei­se erfol­gen. Grie­chen­land hat­te in der Ver­gan­gen­heit gro­ße Pro­ble­me mit die­ser Anzahl an Grenz­über­trit­ten und auch mit der hohen Anzahl an Asyl­ver­fah­ren und hat­te daher die Ankömm­lin­ge nach Nor­den wei­ter­ge­wun­ken. Doch die­ses Mal hat Athen früh­zei­tig um Hil­fe aus ande­ren EU-Staa­ten ange­sucht; eine FRON­TEX-Spe­zi­al­mis­si­on wur­de bereits beschlos­sen. Dar­über hin­aus hat Grie­chen­land das Recht auf Asyl, wie der kon­ser­va­ti­ve grie­chi­sche Pre­mier­mi­nis­ter Mit­so­ta­kis sag­te, „aus­ge­setzt“. Heu­te geht es dar­um, Asyl­an­su­chen über­haupt zu ver­hin­dern – und dadurch lang­wie­ri­gen Ver­fah­ren vorzubeugen.

Die Tür­kei weiß natür­lich um die Pro­ble­me, die Euro­pa mit Flücht­lin­gen hat. Prä­si­dent Erdoğan weiß, dass es seit 2015 kein ein­heit­li­ches euro­päi­sches Asyl­sys­tem gibt, dass es kei­ne „gerech­te Ver­tei­lung“ von Flücht­lin­gen gibt. Er weiß, dass er dadurch Druck auf Euro­pa aus­üben kann, sowohl von außen als auch von innen. Die EU steht heu­te vor dem­sel­ben Pro­blem wie 2015: der­je­ni­ge Staat, der Asyl­wer­ben­de zuerst regis­triert, ist für deren Asyl­ver­fah­ren ver­ant­wort­lich. In die­sem Fall wäre das Grie­chen­land. Die Grie­chen ste­hen vor dem Pro­blem, mit der Ankunft von der­ar­tig vie­len Men­schen über­for­dert zu sein – Druck von außen. 2015 hat Grie­chen­land die­se Men­schen wei­ter­ge­schickt, über den Bal­kan nach Öster­reich, Deutsch­land und Schwe­den. Damit hat Athen eine Debat­te über eine fai­re­re Ver­tei­lung ange­sto­ßen – Druck von innen.

Vorhersehbare Krise

Das Abkom­men mit der Tür­kei hat die Flucht- und Migra­ti­ons­be­we­gung nach Euro­pa qua­si been­det. Doch das Abkom­men war selbst eine Quel­le der Unei­nig­keit und auch des Popu­lis­mus: ein Abkom­men mit einem auto­ri­tä­ren Staats­chef, durch das man sich von die­sem auch noch hoch­gra­dig abhän­gig macht? Das muss­te zwangs­läu­fig für Kri­tik sor­gen. Doch der Deal hat funk­tio­niert, die Not­wen­dig­keit, eine bes­se­re Migra­ti­ons­po­li­tik schaf­fen zu müs­sen, schien ver­tagt. Doch das Pro­blem, von der Tür­kei abhän­gig zu sein, wur­de nicht gelöst. Heu­te wird das mehr als deut­lich: in der Flücht­lings­fra­ge sitzt Anka­ra am län­ge­ren Hebel und es ver­sucht, die­se Posi­ti­on aus­zu­nut­zen. Die Tür­kei betreibt Poli­tik auf dem Rücken die­ser Men­schen, die dar­auf hof­fen, sich in Euro­pa eine neue Exis­tenz aufzubauen.

Den­noch war die­se Kri­se, die­se Situa­ti­on an der Gren­ze vor­her­zu­se­hen. Drei Mil­lio­nen Flücht­lin­ge in der Tür­kei ver­schwin­den nicht ein­fach. Der Deal zwi­schen Anka­ra und Brüs­sel, den vor allem die deut­sche Bun­des­re­gie­rung ent­wi­ckelt hat­te, war nie als Dau­er­lö­sung gedacht, son­dern soll­te Euro­pa Zeit erkau­fen. Das hat er getan – bis heu­te. Einer men­schen­wür­di­gen Lösung der Flücht­lings­pro­ble­ma­fik sind wir aller­dings nicht näher als wir es 2015 waren.

Ratlosigkeit

In Anka­ra selbst herrscht Rat­lo­sig­keit. Wie kann man es schaf­fen, sich wie­der aus Syri­en zurück­zu­zie­hen und gleich­zei­tig sei­ne Inter­es­sen zu wah­ren? Die­se Inter­es­sen betref­fen vor allem die Unab­hän­gig­keit der Kur­den­ge­bie­te in Syri­en. Für die Tür­kei ist das eine wesent­li­che Sicher­heits­fra­ge, eine Fra­ge der ter­ri­to­ria­len Inte­gri­tät. Denn wenn sich ein kur­di­scher Staat bil­den wür­de, dann wür­den sich die­sem wahr­schein­lich auch die kur­di­schen Tei­le der Tür­kei anschlie­ßen. Es ist daher schon lan­ge das Ziel der Tür­kei, die­se Unab­hän­gig­keit mit allen Mit­teln zu ver­hin­dern. Zuletzt okku­pier­te man daher Ter­ri­to­ri­um in Nord­sy­ri­en, um eine „Sicher­heits­zo­ne“ zu schaf­fen. De fac­to bedeu­tet das, dass die Tür­kei sogar bereit ist, mili­tä­ri­sche Mit­tel ein­zu­set­zen, um die Schaf­fung einer zusam­men­hän­gen­den, auto­no­men kur­di­schen Enti­tät zu verhindern.

Die­ses Ein­drin­gen in Syri­en war mit hohen Kos­ten ver­bun­den. Ver­gan­ge­nen Frei­tag wur­den 33 tür­ki­sche Sol­da­ten in der syri­schen Regi­on Idlib getö­tet. Seit­her rumort es in Anka­ra, hek­tisch wer­den Gesprä­che mit Russ­land geführt. Ver­gan­ge­ne Woche hat die Tür­kei außer­dem eine Son­der­sit­zung des Nord­at­lan­tik­rats ein­be­ru­fen. Die Hoff­nung, die euro­päi­schen Alli­ier­ten wür­den eine Flug­ver­bots­zo­ne über Syri­en eta­blie­ren, um die tür­ki­schen Streit­kräf­te zu schüt­zen, wur­de jedoch ent­täuscht. Die NATO ist schlicht und ergrei­fend nicht gewillt, sich in einen poten­zi­el­len Krieg mit Russ­land hin­ein­zie­hen zu las­sen. Eine Flug­ver­bots­zo­ne wur­de nicht ernst­haft dis­ku­tiert, aber die NATO erklär­te sich mit der Tür­kei „völ­lig soli­da­risch“, so der NATO-Gene­ral­se­kre­tär Stol­ten­berg am Freitag.

Zögernde NATO

Allies con­demn the con­tin­ued indis­cri­mi­na­te air strikes by the Syri­an regime and its back­er Rus­sia in Idlib pro­vin­ce. We call on them to stop their offen­si­ve. To respect inter­na­tio­nal law. And to back UN efforts for a peaceful solu­ti­on. […] Today’s mee­ting is a sign of soli­da­ri­ty with Tur­key. Tur­key is the NATO Ally most affec­ted by the ter­ri­ble con­flict in Syria, which has suf­fe­r­ed the most ter­ro­rist attacks, and which hosts mil­li­ons of refu­gees. NATO con­ti­nues to sup­port Tur­key with a ran­ge of mea­su­res, inclu­ding by aug­men­ting its air defen­ces, which helps Tur­key against the thre­at of mis­sile attacks from Syria.

Jens Stol­ten­berg

Einen Tag dar­auf öff­ne­te die Tür­kei die Gren­ze zu Grie­chen­land. Teil­wei­se schei­nen sogar die tür­ki­schen Behör­den Flücht­lin­ge bzw. Migran­ten mit Bus­sen vor die grie­chi­sche Gren­ze zu brin­gen. Druck auf Euro­pa durch etwas mehr als 10.000 Flücht­lin­ge bzw. Migran­ten aus­üben zu wol­len ist aller­dings etwas völ­lig ande­res als ein offe­ner Kon­flikt mit der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on. Das weiß die NATO – und durch ihre Hand­lun­gen hat sie das Mos­kau gegen­über bestä­tigt. Umso wich­ti­ger waren die direk­ten Gesprä­che zwi­schen dem tür­ki­schen Prä­si­den­ten Erdoğan und dem rus­si­schen Prä­si­den­ten Putin. Die Tür­kei will auf kei­nen Fall in einen offe­nen mili­tä­ri­schen Kon­flikt mit Russ­land gezo­gen werden.

Ein russischer Friede

Für die Rus­sen scheint der­weil alles nach Plan zu ver­lau­fen: von der NATO hat man schein­bar nichts zu befürch­ten, die Tür­kei ver­sucht, aus dem Krieg in Syri­en mög­lichst unbe­scha­det her­aus­zu­kom­men und die Rebel­len sind mehr oder weni­ger end­gül­tig besiegt. Mos­kau hat sich einen wich­ti­gen Ver­bün­de­ten in stra­te­gi­scher Nähe zum Kau­ka­sus gesi­chert und eben­so sei­nen Zugang zum Mit­tel­meer durch den Hafen von Tar­tus. Für Russ­land hat sich die Unter­stüt­zung Assads stra­te­gisch also bereits bezahlt gemacht.

Doch für Russ­land ist Syri­en immer noch eine nicht zu unter­schät­zen­de Bewäh­rungs­pro­be. Die gegen­wär­ti­ge Situa­ti­on ist deli­kat und erfor­dert geschick­tes Manö­vrie­ren. Die Rus­sen wol­len auf gar kei­nen Fall, dass der Kon­flikt mit der Tür­kei so sehr eska­liert, dass die NATO ein­fach ein­grei­fen muss, um Anka­ra gemäß Arti­kel 5 des NATO-Ver­trags zu hel­fen. Auch Russ­land will kei­nen Krieg mit der NATO, ins­be­son­de­re nicht in Syri­en, denn das wür­de alle sei­ne Fort­schrit­te gefähr­den. War­um also ris­kie­ren, dass Damas­kus doch noch erobert und Assad gestürzt wird? Russ­land ist in Syri­en noch nicht am Ziel.

Syrischer Burgfriede

Eine Eini­gung zwi­schen der Tür­kei und Russ­land hin­sicht­lich eines Waf­fen­still­stands in Idlib wäre ein will­kom­me­ner Aus­weg für die Tür­kei, aber auch für Russ­land und Euro­pa. Tat­säch­lich haben sich Erdoğan und Putin auf einen sol­chen geei­nigt. Am Frei­tag schien die­ser zwar tat­säch­lich zu hal­ten, doch wäre der jet­zi­ge Waf­fen­still­stand (laut Gud­run Har­rer ein Burg­frie­de zwi­schen Russ­land und der Tür­kei) nicht der ers­te, der an der Rea­li­tät all­zu bald wie­der zer­bricht. Man kann eigent­lich nur abwar­ten und dar­auf hof­fen, dass er hal­ten wird und damit viel­leicht sogar das Ende des Bür­ger­kriegs bedeu­tet – ich per­sön­lich glau­be es nicht, hof­fe aber, dass ich mich irre.

Es liegt eigent­lich min­des­tens seit 2015 im euro­päi­schen Inter­es­se, dass der Bür­ger­krieg in Syri­en endet. Auch, wenn es nicht das gewünsch­te Ergeb­nis des Kon­flikts dar­stellt, ist den­noch klar gewor­den, dass Bas­har al-Assad an der Macht blei­ben wird. Ein Ver­such, die­ses unver­meid­li­che Ergeb­nis doch noch zu ver­mei­den, wür­de eine signi­fi­kan­te Ver­län­ge­rung des Kon­flikts bedeu­ten. Um also den Druck von der Tür­kei zu neh­men, wäre es für Euro­pa höchst an der Zeit, mit den USA und Russ­land zu einem gemein­sa­men Ergeb­nis in Syri­en, zu einer diplo­ma­ti­schen Lösung des Kon­flikts zu gelangen.

Bauernopfer

Und die Men­schen an der grie­chisch-tür­ki­schen Gren­ze? Sie kön­nen weder vor noch zurück. Die Tür­kei hat 1.000 zusätz­li­che Poli­zei­kräf­te an die Gren­ze ent­sandt, um zu ver­hin­dern, dass die­se Men­schen wie­der zurück­keh­ren. Sie befin­den sich de fac­to im Nie­mands­land. Und die­je­ni­gen, die es trotz aller Wid­rig­kei­ten nach Euro­pa geschafft haben? Wenn sie das Pech haben, in Grie­chen­land regis­triert zu wer­den, wird ihnen das Recht auf ein fai­res Asyl­ver­fah­ren ver­wehrt, zumin­dest für einen Monat. Für die­ses “Aus­set­zen” des Asyl­rechts gibt es jedoch kei­ne recht­li­che Basis.

Die­se Men­schen sind ein Bau­ern­op­fer, sie wer­den zwi­schen den Inter­es­sen der EU und denen der Tür­kei auf­ge­rie­ben. Sie sind Gefan­ge­ne zwi­schen der Hoff­nung auf ein bes­se­res Leben und dem Hor­ror des Kriegs in Syri­en. Es wäre jetzt das ein­zig Rich­ti­ge, die­se Men­schen zu schützen.

Ich selbst ver­su­che immer, mir eine dif­fe­ren­zier­te Sicht­wei­se auf die euro­päi­sche Migra­ti­ons­po­li­tik zu bewah­ren. Eben­so auf die Lage an der Gren­ze zwi­schen Grie­chen­land und der Tür­kei. Aber manch­mal gibt es nur eine Posi­ti­on und es ist egal, ob sie dem Zeit­geist ent­spricht oder nicht. Ich schrei­be das, wäh­rend ich mich fra­ge, ob ich dafür ange­fein­det wer­de. Aber man schießt nicht auf Men­schen, man prü­gelt nicht auf sie ein, wie es Rechts­extre­me auf Les­bos getan haben und man lässt Men­schen nicht ertrin­ken. Wir ste­hen in der Pflicht, ihnen zu helfen.

Beitrags­bild: Daan Hut­tin­ga/Uns­plash