Die Fehler der NATO in Libyen

Die gegen­wär­ti­gen Ent­wick­lun­gen in Liby­en rufen poli­ti­schen, diplo­ma­ti­schen und jour­na­lis­ti­schen Pes­si­mis­mus her­vor. Das nord­afri­ka­ni­sche Land in unmit­tel­ba­rer Nähe zur Euro­päi­schen Uni­on ent­wi­ckelt sich, seit dem Beginn eines neu­er­li­chen Bür­ger­kriegs letz­tes Jahr, schein­bar in einen Safe Haven für ter­ro­ris­ti­sche Akti­vi­tä­ten. Man­che Beob­ach­ter wür­den gar argu­men­tie­ren, dass der Bür­ger­krieg 2011, an des­sen Ende der lang­jäh­ri­ge Dik­ta­tor Gad­da­fi gestürzt wor­den war, 2012 und 2013 ledig­lich unter­bro­chen war. Ande­re sehen Liby­en schlicht als geschei­ter­ten Staat – kein unplau­si­bles Argu­ment ange­sichts der Tat­sa­che, dass der liby­sche Staat einen dra­ma­ti­schen Man­gel an Durch­set­zungs­fä­hig­keit bewie­sen hat.

Wie­der ande­re zie­hen die Inter­ven­ti­on der NATO selbst in Zwei­fel, wie bei­spiels­wei­se Alan J. Kuper­man in For­eign Affairs (März/April 2015). Es wäre bes­ser gewe­sen, Gad­da­fi an der Macht zu belas­sen, so Kuper­man, dies hät­te eine bes­se­re Metho­de bedeu­tet, der inter­na­tio­na­len Schutz­ver­ant­wor­tung (Respon­si­bi­li­ty to Pro­tect, R2P) nach­zu­kom­men (sie­he Kuper­man 2015, S. 67). Eine sol­che Beob­ach­tung macht aller­dings etwas per­plex: auf wel­che Wei­se wäre die­se Alter­na­ti­ve bes­ser gewesen?

Bemisst man die Nach­hal­tig­keit des Erfolgs der NATO-Mis­si­on in Hin­blick auf den Schutz von Men­schen­le­ben, auf die Ver­mei­dung einer huma­ni­tä­ren Kri­se und auf die Ver­mei­dung der Bil­dung jiha­dis­ti­scher Grup­pen, so war sie defi­ni­tiv kein Erfolg. In der Zeit von 2011 bis 2015 wur­de aus Liby­en ein insta­bi­ler, vom Bür­ger­krieg zer­ris­se­ner Staat, unge­fähr 11.000 Men­schen ver­lo­ren ihr Leben (ebd., S. 70 – 72) und Liby­ens Demo­kra­ti­sie­rung ist nicht ein­mal einer Erwäh­nung wert. Statt­des­sen wur­de aus Liby­en ein Safe Haven für Ter­ro­ris­ten, die in ers­ter Linie die Sicher­heit Euro­pas bedro­hen – zusätz­lich zu den Bedro­hun­gen, die vom Bür­ger­krieg in Syri­en und dem Krieg in der Ost­ukrai­ne ausgehen.

Nichts­des­to­trotz ist die Ver­ant­wor­tung der NATO für die Ent­wick­lung Liby­ens in der Post-Gad­da­fi-Ära stark in Zwei­fel zu zie­hen. Wenn­gleich es unbe­streit­bar ist, dass die NATO dar­an schei­ter­te, die aktu­el­len Ent­wick­lun­gen im Vor­feld zu ver­hin­dern, bedeu­tet das nicht, dass aus­schließ­lich die Alli­anz dafür ver­ant­wort­lich ist und die liby­sche Zen­tral­re­gie­rung nicht. Zu behaup­ten, es wäre allei­ne die Schuld der NATO, dass Liby­en der­art zer­fal­len ist, tut nicht nur dem Ver­tei­di­gungs­bünd­nis unrecht. Die­ses Argu­ment ver­leug­net zudem die Hand­lungs­macht und Ver­ant­wort­lich­keit Libyens.

Der Sturz Gaddafis

Den­noch müs­sen auch die Fak­ten aner­kannt wer­den: Ohne die Inter­ven­ti­on der NATO hät­te Gad­da­fis Regime wahr­schein­lich nicht geen­det und der liby­sche Staat wäre wahr­schein­lich nicht zer­fal­len. Dies liegt vor allem an der hoch­gra­dig per­so­na­li­sier­ten Herr­schaft Gad­da­fis, des­sen pro­fun­des Miss­trau­en gegen­über ver­schie­dens­ten Insti­tu­tio­nen es war, wel­ches für das Feh­len staat­li­cher Insti­tu­tio­nen und Struk­tu­ren sorg­te. Die­ses Feh­len staat­li­cher Struk­tu­ren stürz­te Liby­en nach dem Sturz Gad­da­fis ins Cha­os stützte.

Bour­gui­ba favou­red insti­tu­ti­ons and a robust bureau­cra­cy, while Gad­da­fi dis­trus­ted insti­tu­ti­ons and sought to dis­mant­le every uni­on and club.

His­ham Mat­ar, The Guar­di­an

Das Schei­tern ver­schie­de­ner Grup­pie­run­gen dabei, sich auf ein Sys­tem par­la­men­ta­ri­scher Reprä­sen­ta­ti­on zu eini­gen sowie Wah­len zu orga­ni­sie­ren resul­tier­te im Zusam­men­bruch Liby­ens. Anders als Tune­si­en, das sich auf sei­ne Gewerk­schaf­ten und vor allem sein Mili­tär ver­las­sen konn­te, nutz­te Gad­da­fi in Liby­en die Inter­es­sen ver­schie­de­ner ara­bi­scher Stäm­me geschickt aus und ver­ließ sich vor allem auf sei­ne eige­ne Eli­te­trup­pe. Der jet­zi­ge Bür­ger­krieg geht auf die­se feh­len­den Insti­tu­tio­nen zurück, über die Strei­tig­kei­ten kana­li­siert hät­ten wer­den kön­nen, wären sie stär­ker gewesen.

Juan Cole beschreibt das Gad­da­fi-Regime als eine ara­bi­sche Form des Sta­li­nis­mus. Tota­le Kon­trol­le über die Gesell­schaft, über Bil­dungs­ein­rich­tun­gen wie Biblio­the­ken oder Uni­ver­si­tä­ten, über das Mili­tär. (Juan Cole, „The New Arabs. How the Mil­len­ni­al Gene­ra­ti­on Is Chan­ging the Midd­le East“, New York, Simon & Schus­ter, S. 228) Gad­da­fi selbst ver­ließ sich vor allem auf sei­ne Eli­te­trup­pe, die Revo­lu­ti­ons­gar­de. Die­se para­mi­li­tä­ri­sche Orga­ni­sa­ti­on para­ly­sier­te die liby­sche Gesell­schaft für eine lan­ge Zeit:

A cou­ple of days later, Kha­led kind­ly took me to meet the his­to­ri­an and phy­si­ci­an Muham­mad al-Muf­ti. […] The dap­per, gen­tle­m­an­ly al-Muf­ti recei­ved us in his book-lined stu­dy. As I loo­ked at the shel­ves and shel­ves of books, I thought of the sto­ry the new head of the Natio­nal Libra­ry in Bengha­zi told me. He said that in the ear­ly 1980s Qad­da­fi appoin­ted a gene­ral to run the libra­ry. The man was dis­mis­si­ve of books. ’All we need,’ he declared, ’is the Green Book.’

Juan Cole, “The New Arabs”, S. 230

Hier setzt Kuper­man an: Gad­da­fi sei not­wen­dig gewe­sen für das Über­le­ben des liby­schen Staa­tes und aus­ge­hend davon, dass er die liby­sche Bevöl­ke­rung für die Revol­te gegen sei­ne Herr­schaft nicht bestraft hät­te, sei eine Inter­ven­ti­on gar nicht nötig gewe­sen (Kuper­man 2015, S. 70 – 72). Außer­dem sei der Vor­kriegs-Gad­da­fi ein Ver­bün­de­ter der Ver­ei­nig­ten Staa­ten im Kampf gegen Ter­ro­ris­mus gewe­sen. Dar­über hin­aus, so Kuper­man wei­ter, sei über­haupt nicht damit zu rech­nen gewe­sen, dass das Regime tat­säch­lich jene Gräu­el­ta­ten ver­üben wür­de, derer es ver­däch­tigt wur­de und wel­che die Inter­ven­ti­on letz­ten Endes recht­fer­tig­ten (ebd.). Doch so sicher ist dies nicht. Gad­da­fi war bis zu einem gewis­sen Grad unbe­re­chen­bar – wer hät­te also mit Sicher­heit sagen kön­nen, was das Regime tun oder nicht tun würde?

Bewaffnete Milizen

Die eigent­li­chen Nach­kriegs­pro­ble­me Liby­ens began­nen erst, als die Mili­zen, die im Bür­ger­krieg gekämpft hat­ten, sich wei­ger­ten, ihre Waf­fen der Zen­tral­re­gie­rung zu über­ge­ben. Dar­über hin­aus war die wei­te Ver­brei­tung von Waf­fen, die sich in den Hän­den ver­schie­de­ner Mili­zen mit unter­schied­li­chen Inter­es­sen befan­den, zen­tral. Eine Ent­waff­nung die­ser Grup­pen hät­te es wesent­lich ein­fa­cher gemacht, unter ande­rem für UNSMIL, den poli­ti­schen Pro­zess vor­an­zu­brin­gen. Statt­des­sen began­nen die Kämp­fe von Neu­em. Bereits im Novem­ber 2011 bemerk­te David D. Kirk­pa­trick in der New York Times:

Many of the local militia lea­ders who hel­ped topp­le Col. Muammar el-Qad­da­fi are aban­do­ning a pledge to give up their wea­pons and now say they intend to pre­ser­ve their auto­no­my and influence poli­ti­cal decis­i­ons as “guar­di­ans of the revolution.”

David D. Kirk­pa­trick, The New York Times

Es ist klar, dass die­se Mili­zen kei­ne unüber­leg­te Ent­schei­dung tra­fen, son­dern sich dazu ent­schie­den, auf die­se Wei­se eine star­ke Rol­le inner­halb des poli­ti­schen Pro­zes­ses zu spie­len. Es ist ein Fakt, dass sich der Natio­na­le Über­gangs­rat, der sei­ne Kom­pe­ten­zen am 08. August 2012 einer neu­ge­wähl­ten Ver­samm­lung über­trug, zwi­schen der Inte­gra­ti­on der Mili­zen in den poli­ti­schen Pro­zess oder deren Bekämp­fung ent­schei­den muss­te. In kei­nem Fall hät­te der liby­sche Staat es zulas­sen kön­nen, dass alter­na­ti­ve Macht­quel­len exis­tie­ren, die sein Gewalt­mo­no­pol infra­ge stel­len. Die Wei­ge­rung der Mili­zen, ihre Waf­fen abzu­ge­ben und ihre Wei­ge­rung, ein Teil der liby­schen Streit­kräf­te zu wer­den, war ein Dilem­ma, das ohne gewalt­sa­mes Vor­ge­hen nicht auf­zu­lö­sen war.

Vor die­sem Hin­ter­grund muss die Ope­ra­ti­on Digni­ty gegen den von Isla­mis­ten domi­nier­ten Natio­nal­kon­gress in Tri­po­lis und gegen Isla­mis­ti­sche Mili­zen in Bengha­zi gese­hen wer­den. Nur 18 Pro­zent der liby­schen Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler hat­ten an der Wahl zum Abge­ord­ne­ten­rat teil­ge­nom­men, der eine neue Regie­rung bil­den soll­ten. Es über­rascht nicht, dass die isla­mis­ti­schen Par­tei­en das Wahl­er­geb­nis ablehn­ten. Die­se insta­bi­le Situa­ti­on, in der nie­mand über ein ein­deu­ti­ges Gewalt­mo­no­pol ver­fügt und in wel­cher es täg­lich zu Kon­flik­ten zwi­schen den Mili­zen selbst kommt, bil­de­te den Nähr­bo­den für ter­ro­ris­ti­sche Grup­pen wie dem soge­nann­ten „Isla­mi­schen Staat“.

Unvermeidbare Fehler

Kuper­mans Argu­men­ta­ti­on ist nicht unver­ständ­lich, ganz im Gegen­teil. Die NATO hät­te in der Tat ihre Respon­si­bi­li­ty to Pro­tect bes­ser wahr­neh­men und Liby­ens Ent­wick­lung in einen geschei­ter­ten Staat ver­hin­dern kön­nen. Den­noch über­zeugt sei­ne Argu­men­ta­ti­on nicht davon, dass kei­ne Inter­ven­ti­on sei­tens der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft bes­ser gewe­sen wäre.

In der Tat sind der Nord­at­lan­tik-Alli­anz zwei Feh­ler unter­lau­fen, die aller­dings nicht ver­meid­bar waren bzw. der Situa­ti­on geschul­det waren. Einer­seits kam die Inter­ven­ti­on zeit­lich zu spät und ande­rer­seits dau­er­te sie nicht lan­ge genug, um eine effek­ti­ve Trans­for­ma­ti­on zu Frie­den und Demo­kra­tie her­zu­stel­len. So hät­te eine frü­he­re Inter­ven­ti­on ver­mut­lich den Zer­fall der Rebel­len in vie­le ver­schie­de­ne Mili­zen vor­beu­gen kön­nen, wodurch die NATO der heu­ti­gen Frag­men­tie­rung bis zu einem gewis­sen Grad vor­beu­gen hät­te kön­nen. Eine län­ge­re Inter­ven­ti­on ande­rer­seits hät­te es ermög­licht, die Mili­zen zu ent­waff­nen und den poli­ti­schen Pro­zess zu sichern.

Bei­de Vari­an­ten waren aller­dings unver­meid­bar, denn Russ­land und Chi­na haben im UN-Sicher­heits­rat erst einer Reso­lu­ti­on zuge­stimmt, als zuge­si­chert wur­de, dass nach dem Ende der Inter­ven­ti­on kei­ne Besat­zungs­trup­pen im Land blei­ben wür­den. Dies zu igno­rie­ren hät­te einen Ver­stoß gegen das Man­dat des UN-Sicher­heits­rats bedeu­tet. Die Alter­na­ti­ve wäre gewe­sen, ein neu­es Man­dat nach Kapi­tel VI der UN-Char­ta anzu­stre­ben, um den poli­ti­schen Pro­zess mili­tä­risch absi­chern zu kön­nen – etwas, das real­po­li­tisch unmög­lich war.

Keine Intervention wäre nicht zwingend besser gewesen

Es stimmt zwar, dass die NATO-Inter­ven­ti­on in Liby­en nach hin­ten los­ge­gan­gen sein mag, ins­be­son­de­re was den Schutz von Zivi­lis­ten betrifft. Das Regime hat­te kurz davor­ge­stan­den, den Krieg zu gewin­nen, was ein rasches Ende die­ses Kon­flikts bedeu­tet und den Zer­fall des liby­schen Staats ver­hin­dert hät­te. Als Kon­se­quenz des andau­ern­den Bür­ger­kriegs zir­ku­lier­ten an des­sen spä­te­rem Ende eine Viel­zahl Klein- und Leicht­waf­fen sowie die ent­spre­chen­de Munition.

Aller­dings ist es frag­lich, dass sich die Situa­ti­on für die liby­sche Bevöl­ke­rung ver­bes­sert hät­te, wäre Gad­da­fi an der Macht geblie­ben. Letz­ten Endes hät­te Gad­da­fis Herr­schaft geen­det und sein Sohn, Saif al-Islam, wäre der neue Anfüh­rer der liby­schen Regie­rung gewor­den. Die­ser hät­te eine refor­mis­ti­sche Agen­da gehabt – aber das ist eben­falls kei­ne Garan­tie für Ver­än­de­run­gen. Immer­hin hat­te auch der Sohn des syri­schen Dik­ta­tors Hafez al-Assad, der jet­zi­ge Prä­si­dent Syri­ens Bas­har al-Assad, eine refor­mis­ti­sche Agen­da und war der­einst die größ­te Hoff­nung auf eine Demo­kra­ti­sie­rung Syriens.

Hät­te die NATO nicht ein­ge­grif­fen, Gad­da­fi wäre wohl der Herr­scher in Liby­en geblie­ben. Hät­te er an den Auf­stän­di­schen ein Exem­pel sta­tu­ie­ren las­sen? Das wer­den wir nicht mehr erfahren.

Bei­trags­bild: Alex­an­dros Michailidis/Shutterstock

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